Burzum ist nicht einfach nur der Name einer Band, sondern dieser Begriff steht zugleich für das ganze Problemfeld, welches sich um den Solisten Varg Quisling Lárusson Vikernes aufgebaut hat. Musikalisch zwar für viele Fans eine Offenbarung, ist er aber aufgrund anderer Aktivitäten auch extrem umstritten. Tiefer zu schauen und die Ursache zu ergründen heißt, seine ganz persönliche Interpretation der Dinge kennenzulernen. Eine gute Gelegenheit dafür bietet nun die seit einiger Zeit via Internet verfügbare Niederschrift seiner Weltanschauung, das
"Vargsmål". Alexander Heine bemühte sich im Folgenden, dem Werk und seinem Autor gerecht zu werden.
Um die Katze oder besser gesagt den Wolf aus dem Sack zu lassen: Es ist nicht weiter verwunderlich, daß
"Vargsmål" noch keinen "realen" Verleger gefunden hat und stattdessen in der virtuellen Welt des World Wide Web herumgeistert, denn der Inhalt ist alles andere als leicht verdaulich. Noch ist zwar zu seinem Verständnis die Kenntnis der norwegischen Sprache notwendig, aber sollte wie bereits angekündigt eine deutsche Ausgabe erdscheinen, könnte es für Freund wie Gegner des Høvding Varg unberechenbare Wellen schlagen – bis hin zu einem nicht unwahrscheinlichen Aufmerken vefassungsschützender Institutionen. Immerhin bezeichnet Vikernes sich selbst als norwegischen Nationalsozialisten, was durch jene Lektüre zweifellos eine Bestätigung findet. Seine kompromißlose Überhöhung alles Germanisch-nordischen, sein geifernder Antisemitismus, seine extreme Feindseligkeit gegenüber allem, was nicht hundertprozentig seinen Ansichten entspricht, erhärtet ein Bild, das im Zuge der Medienhysterie um Kirchenbrandstiftungen, Satanismus und die damit im Zusammenhang stehenden Morde, düster drohend erste neblige Form annahm.
Für viele nicht weniger fanatische Menschen mag der stolze Norweger damit sein Pulver verschossen, seinen Vertrauensvorschuß verspielt haben. Alles was er in der Folge zu sagen hat, wird auf dem Hintergrund seiner provokativen politischen Einstellung gemessen werden und damit zur Lüge, zur Hetze, zur Menschenverachtung und somit lediglich polizeilich relevant. Diese Einstellung ist sehr gefährlich, denn sie kommt im Mantel rechtschaffener (selbstgerechter?) Entrüstung, spricht aber die Sprache des Hasses. Inhalte sind austauschbar, die verräterische Form bleibt dieselbe.
Vikernes' Ideen in Bausch und Bogen zu verdammen ist genauso ungerechtfertigt, wie seine Anschuldigungen, das (wie er glaubt, bewiesen zu haben), "satanische" Judentum wäre für alles Schlechte in der Welt oder wenigstens in Norwegen verantwortlich zu machen. So soll also in der Folge ein etwas differenzierteres Licht auf kontroverse Thesen geworfen, die sprichwörtliche Spreu vom Weizen getrennt werden. Nicht zuletzt um jenem Teufelskreis aus Reiz und Reaktion zu entgehen, der in der westlichen Welt, speziell aber in Deutschland und Österreich, sinnvolle, erkenntnisreiche Diskussionen um die jüngere mitteleuropäische Vergangenheit oft erschwert.
Doch behauptet Vikernes auch nicht, ein sofort umsetzbares politisches Programm entworfen haben. Dies mag zum Teil darin begründet sein, daß er wohl das bald über ihn verhängte Kommunikationsverbot im Bergener Landesgefängnis geahnt haben muß – was aufgrund des Inhalts seiner Überlegungen auch nicht gerade schwer gewesen sein dürfte – und er somit eine gewisse Eile in der Abfassung walten lassen mußte. Zum anderen hat man den Eindruck, daß seine wechselnden Gemütszustände so sehr und so direkt sein Schreiben beeinflußten, daß sich viele Kapitel einer Systematisierung (wie es eben für ein politisches Manifest notwendig wäre) entziehen.
Die Widersprüchlichkeit der Medienfigur Count Grishnackh setzt sich als Varg Vikernes in dessen Werk fort. Jedes der 83 Kapitel stellt eine Einheit dar, die für sich selbst steht. Das heißt, eigentlich kann das Buch an jeder beliebigen Stelle begonnen wie auch beendet werden, ohne das wichtige Teile zum Verständnis fehlen würden. Die Themenkomplexe kehren auf die eine oder andere Art immer wieder, wurden von verschiedenen Gesichtspunkten aus beleuchtet und, wie es scheint, auch in den unterschiedlichsten Stimmungen geschrieben. Manchmal in nur wenigen Zeilen, andere Male mehrere Seiten lang, hin und wieder durch Illustrationen unterstützt.
Auch in der Abfassung decken die Texte ein weites literarisches Feld: von Interpretationen nordischer Mythologie, über sozialpolitische "Analysen" und haßerfüllte Schmähreden, bis hin zu gleichnisähnlichen Zeilen. In letzteren entfaltet Vikernes jene literarische Kraft, die auch die Texte Burzums so einzigartig und zugänglich machen. Zugänglich deshalb, weil sie in ihrer tiefsinnigen Einfachheit einen anderen Varg offenbaren als den antisemitischen Mörder und Brandstifter. Diese Texte waren immer der Kompromiß zwischen entflammten Burzum-Anhängern und jenen, deren musikalisches Genießen von den für sie unvertretbaren Ansichten des Mannes hinter dem Projekt getrübt war. Denn hier ist ein direktes Verständnis möglich, eines, das sich majestätisch über irdische Meinungen, Einstellungen und Nöte erhebt und Menschen direkt anspricht, welche ungeachtet ihrer Überzeugungen dieser Poesie zugänglich sind. Als eindrückliche Beispiele für diese, die sonstigen Tiraden abrupt unterbrechenden Segmente, seien die Kapitel 45, wie das gleichnamige Burzum-Instrumental "Tomhet" ("Leere") benannt, oder 75? "Stolthet" ("Stolz"), erwähnt.
Diese Zugänglichkeit jenseits von analytischem und reflexiven Verständnis wird von Varg Vikernes allerdings noch für ein anderes Feld beansprucht, nämlich das "Urverständnis" der rassereinen nordischen Menschen für die eigene Mythologie, woraus sich, nach Vikernes, die Lösung, aller Probleme selbst ergibt, Abgesehen davon, daß diese Haltung schon von den ariosophischen Zirkeln vor dem dritten Reich und natürlich auch von diesem selbst eingenommen wurde, ist sie insofern problematisch, als sie von vorneherein jeglichen Widerspruch ausschaltet. Indem ich Kritik übe erweise ich mich lediglich als nicht-nordischer Mensch und falls ich trotzdem blond sein und blaue Augen mein Eigen nennen sollte, eben als gehirngewaschener solcher. An letzterem Punkt, nämlich den äußeren Merkmalen der Rassereinheit, wird das
"Vargsmål" (Wie nicht anders zu erwarten!) gänzlich konfus und, ja, nahezu amüsant grotesk. Inhaltlich bekommt man natürlich Altbekanntes aus dem unerschöpflichen Fundus des dritten Reiches geboten und das sogar komplett mit einer Grafik zu Vererbung von blauen Augen! Nur letztere machen ja bekanntlich den "reinen Arier", zusammen mit dem leuchtend blonden Schopf…! Dem, in seiner ganzen Absurdität, noch etwas hinzufügen zu wollen, erübrigt sich wohl.
Man fragt sich allerdings, was einen Varg Vikernes dazu bewogen haben könnte, sich in einem gewissen Lebensabschnitt die Haare schwarz zu färben (wie nicht wenige Fotos belegen)? Doch nicht etwa ein Trend?! Nein, Wotan bewahre, das tat er selbstverständlich nur um seine weiße Haut hervorzuheben!! Überhaupt scheint auch für ihn, symptomatischerweise, die Vergangenheitsbewältigung nicht einfach zu sein. Entsprechend seinem Namensgeber, verteidigt er seine Beweggründe auch wie ein Wolf. Viele der Erklärungen müssen hingenommen werden, in Ermangelung besseren Wissens, vieles erscheint aber an den (blonden) Haaren herbeigezogen und überzeugt ganz und gar nicht. So sind seitenlange Schimpfkanonaden (wie Kapitel 19, "Sauer i ulveskinn" – "Schafe im Wolfspelz") gegen sogenannte "Satanisten" in vielen Punkten gerechtfertigt ("Trend", "Wichtigtuerei", im nur zwei Schlagworte zu liefern), in ihrer Selbstherrlichkeit allerdings kaum angebracht. Nicht zuletzt deshalb, weil die Erklärung der eigenen Beweggründe, vor diesem satanismusfeindlichen Hintergrund Stücke wie "Dominus Sathanas" oder den Text "Quintessence" zum gleichnamigen Darkthrone-Song (man erinnere sich: "…only one single licht do show me the way and that ist he eye of Satan…") zu schrieben, ziemliche Lücken aufweist. Lesenswert ist jedenfalls seine Erläuterung bezüglich des Tragens jenes Kettenhemds, mit welchem er auf einigen Fotos zu sehen ist, das klarerweise nur aus magisch-mythologischen Erkenntnissen erfolgt (Kapitel 29, "Glemte kunnskaper" – "Vergessenes Wissen").
Mit dieser Vergangenheit in Zusammenhang steht natürlich auch die Schilderung der Tötung
Øystein Aarseths aus Vikernes' Sicht, der das Kapitel 27 mit dem bewußt provokanten deutschen Titel "Auf Leben und Tod kämpfen" gewidmet ist. Ich schriebe "Tötung", da es sich ja aus der Sicht des Zweiteren um einen Akt der Selbstverteidigung gehandelt haben soll. Wie immer man die Tat nun beurteilen, auf welche Seite man sich – wenn überhaupt – auch schlagen mag, feststeht, daß der darauffolgende Medien – und Gerichtszirkus sicher auch nicht viel zur Wahrheitsfindung beigetragen hat. Der Boulevard hatte nun endlich einen Schuldigen, einen Sündenbock für all die christlichen Ängste, die mit den Kirchen entflammt sind und auch das norwegische Rechtssystem konnte wieder eine exemplarische "abschreckende" Strafe verhängen. Bei der Schriftlegung solcher und ähnlicher Ereignisse der Ausübung von (Staats-) Macht gegen seine Person, zeigt sich natürlich eine gewisse Emotionalisierung des nunmehrigen Gefängnisinsassen, die leider die durchaus vorhandenen, nachvollziehbaren Ansätze von Kritik in wütenden Angriffen auf die "jüdisch-christliche Diktatur" in Norwegen ertränkt.
Vikernes' fast klassisch zu nennender Antisemitismus basiert auf der durchaus nichtigen Einsicht, daß alles Christliche dem Judentum entstammt (schließlich war der Gründer des Christentums selbst Jude), verkommt aber durch den übermäßigen und oftmals nicht ganz korrekten Gebrauch zu einer hohlen, häßlichen Phrase unbestimmter Unzufriedenheit. So pendelt der Autor zwischen introspektiven Vorbesserungideen für das menschliche Zusammensein, Visionen einer neoheidnischen Gesellschaftsordnung in Norwegen und Feldzügen gegen das verteufelte Judentum (inklusive Christentum natürlich). Diese extremen Schwankungen, oder Schwingungen, um im Bild zu bleiben, Machen den Text problematisch, denn nicht nur inhaltlich, sondern auch formal sind selbige festzustellen.
So treten skurrile Abhandlungen über den Zusammenhang zwischen Judenstern und der "Teufelszahl" 666 neben nachvollziehbare Vorschläge, das Leben für sich und die, die einem nahestehen, ehrlicher und somit lebenswerter zu gestalten, als er das in der modernen Gesellschaft für möglich hält. Haarsträubende Geschichtsinterpretationen und auch – Verdrehungen, wie seine Darstellung der deutschen Okkupation Norwegens als freundschaftliches Miteinander und die darauffolgende alliierte Invasion als geplanter Genozid (deren Unsinnigkeit trotz der heute schon kritischer gelesenen Berichte der alliierten Mächte bestehen bleibt), stehen neben Plädoyers für Keuschheit und Manneszucht, die aus den Mündern derer, die ihn verurteilten, hätten stammen können und denen er aus vollem Herzen "jüdisch-christliche Untermenschlichkeit" bescheinigt.
Dabei hätte es Vikernes nicht nötig, sich einerseits nachträglich als ein Sprachrohr der Wehrmachtspropaganda zu profilieren, andererseits päpstlicher als der Papst, soll heißen, konservativer als die konservativsten Kräfte in Norwegen aufzutreten. Seine reformatorischen Ideen können, wenn, dann auch ohne, oder besser, gerade nur ohne solche Mätzchen bestehen. Der Grund für so geartetes Auftreten ist schlicht und einfach ein Bedürfnis nach Provokation, das, wie man an den Reaktionen ermessen kann, durchaus seine Befriedigung gefunden hat – zumindest zum Teil.
Varg Vikernes gebraucht das Bild des schwingenden Pendels selbst (in Kapitel 44, übrigens eines der längsten). Dort erliegt er einem seiner äußerst seltenen reflexiven Momente (natürlich auch nur bis zu einem gewissen Grad), indem er die Notwendigkeit der Stärke des Christentums anerkennt, da sie den Pendelausschwing für die gegenüberliegende Seite, also in diesem Fall die Stärke des Heidentums, bestimmt. Daraus folgt dann auch, um die Demokratie im allgemeinen und Marx im speziellen noch eins auszwischen, die Notwendigkeit des Unterschiedes zwischen den Menschen.
Um die für Vikernes' Verhältnisse wahrscheinlich schon fast schmerzvolle Differenziertheit abzudämpfen, darf aber auch hier der schlußendliche Hinweis nicht fehlen, daß nur durch "Rassenhygiene" einer Gemeinschaft Zukunft, einem Leben Sinn gegeben werden kann. Und natürlich durch den Glauben an Odin, die Asen und Vanen beziehungsweise die Ausübung okkulter urgermanischer Rituale, wie der Seidr, der weibliche Heiltanz der Walküren…
Eine etwas befremdliche Analogie sieht der Gründer der
Norsk Hedensk Front (Norwegische Heidnische Front) in der Techno und House Musik, die Alternative des reinweißen arischen Menschen zum unreinen Hiphop sein soll. Das erklärt zwar seine unglücklichen jüngeren musikalischen Versuche (
"Hliðskjálf"), nicht aber wie er auf die verhängnisvolle Idee kommt, daß in der Technoszene lebenssinnstiftende Ansätze vorhanden wären, nur weil der Imperativ dort "tanz!" heißt. Auch in der musikalischen Frage ist jene Widersprüchlichkeit auszumachen, die das gesamte
"Vargsmål" wie ein roter Faden durchzeiht, denn außer in Techno will Vikernes nur noch in der klassischen Musik den Ursprung des weißen Menschen erkennen.
Kann man also sagen, wie es Samoth von Emperor auszudrücken pflegt, Burzum ist eine Lüge? Wie bei vielem aus dieser Zeit bleibt die Antwort unklar und verwaschen. Mindestens der Ursprung des Projektnamens und des gräflichen Pseudonyms, entstanden aus dem Vergleich von Tolkiens fiktivem Konstrukt "Der Herr der Ringe" mit der skandinavischen Mythologie (Kapitel 44, "Nafnits upphaf" - "Ursprung des Namens"), wird klarer, wenn er auch im Gegensatz zu der von Vikernes selbst proklamierten Mißachtung christlich überlieferter Texte zum germanischen Brauchtum steht. Tolkien war schließlich kein Neuheide. Wie soll jemand, der letzteres auch nicht unbedingt ist und angesichts des missionarischen Eifers des Autors – dem der frühen christlichen Missionare übrigens nicht unähnlich – verwundert den Kopf schüttet, sich nun zu diesem Werk einstellen? Ist es überhaupt möglich, eine Einstellung zufrieden?
Die Radikalität der getätigten Aussagen bedingen natürlicherweise eine Teilung der Leserschaft, genauso wie die Vorgänge im Jahr 1993 eine Polarisierung der Black-Metal-Szene nach sich zogen. Wobei es unwahrscheinlich ist, daß sich diese zwei Lager in beiden Fällen nicht decken würden. Den wenigen, die sich trotz aller Hysterie und Droherei der FOGs (Friends of Grrishnackh) und FOEs (Friends of Euronymous) nicht von einer Seite haben einnehmen lassen, sei nicht das Buch sondern dessen Lektüre empfohlen. Sollten sich selbst dunkle Ahnungen und Befürchtungen bestätigen und die im Buch geäußerten Ansichten für den Leser als gänzlich inakzeptabel erweisen, so ensteht doch, fast paradoxerweise, ein fundierter es, wenn nicht sogar menschlicheres Bild von Varg Vikernes, Mörder und Brandstifter, Ariomane und Musiker, Heide und… Norweger.
Der Autor: Alexander Heine (© 1996 "Ablaze" Zeitschrift, Deutschland)